Wie auch immer man dieses Motiv deuten will, unter dem die diesjährige Biennale Arte Venezia steht – es passt. Ein grosser Kunstrundblick: 91 Länder sind vertreten und dazu der vom Amerikaner Ralph Rugoff kuratierte Teil im Palazzo Biennale und im Arsenale. 79 Künstler_innen hat er eingeladen und 42 davon sind Frauen. Ein absoluter Rekord für eine Schau dieser Dimension weltweit. Was uns schnell aufgefallen ist: Dort wo Menschen abgebildet sind und in Filmen vorkommen, sind es sehr oft Farbige oder Indigene. Das gibt ein eher neues Gefühl von globaler Selbstverständlichkeit. Nur – für die Besucher_innen gilt das nicht, da dominieren nach wie vor die privilegierten Weissen.
Was uns besonders aufgefallen ist, gefallen, beeindruckt hat: Die chinesische Präsenz im Arsenale. Dabei ein faszinierendes Video von rudimentären und doch unglaublich ausdrucksstarken Lehmfiguren, die sich durch eine nicht näher definierte Existenz kämpfen, entstehen, sich auflösen. Wir finden es besonders spannend, dass das sich rasant technologisierende China künstlerisch mit einer so «erdig» anmutenden Produktion erscheint.
Ghana: Zum ersten Mal vertreten an der Biennale und grad mit einer grossen künstlerischen Wucht. Ockerfarbene Mauern, daran wunderbare Ölbilder von Menschen, riesige, leuchtend farbige Paneele aus z.B. recycelten Blechabfällen und dann ein grossformatiges, dreiteiliges Video, das vom Land erzählt, wortlose Einblicke gewährt in Schönheit und Not.
Die junge Laure Prouvost bespielt den französischen Pavillon fulminant mit einem grossartig schnellen, unkonventionellen, farbigen Film über eine Reise durch Frankreich, bei der immer wieder Leute dazukommen, scheinbar zufällig. «Deep see blue sourroundig you» zeigt in kurzen Schnitten schräge Gestalten, schillernde Szenen. Objekte die im Film vorkommen, sind im Pavillon über und unter einem wasserblauen Glasboden zu sehen. Ein echter Aufsteller.
Israel beschäftigt das Publikum mit aktiver Teilnahme. Im «Field Hospital» wählt man eines von vier Themen, z.B. «I never understood» oder «I wonder if the time has come», was ich wählte. Nach einer kurzen (Befreiungs-)Schrei-Sequenz, allein in einer abgedichteten Zelle, wird man zu einer medizinischen Liege geleitet und sieht sich den entsprechenden Beitrag am Bildschirm an. Dann kann man eine «second opinion» dazu wählen, hört Kommentare zum Gesehenen und soll sich – bei uns hat das funktioniert – seine eigenen Gedanken dazu machen. Bei mir war es die Selbstreflexion einer Transgender Person über ihren persönlichen, sozialen, medizinischen Prozess vom Mann zur Frau.
Für Deutschland hat eine unter Pseudonym arbeitende Künstlerin, die sich auch an der Vernissage nicht outete, eine riesige Staumauer in den Pavillon gebaut. Unten kommt ein Rinnsal durch, es gemahnt an Blut. Uns hat es beeindruckt.
Der britische Pavillon wird von Cathy Wilkes bespielt. Wilkes, in Nordirland geboren, hat eine fast zauberhafte Stimmung geschaffen. Einzelne unscheinbare Objekte, Bilder und die rudimentär geformten Frauenfiguren mit schwangeren Bäuchen stehen wie zufällig in den Räumen und scheinen doch Geschichten zu erzählen. Wir Besucher_innen flüstern, sind vom Zauber eingenommen.
Für die Schweiz wird auf einer grossen Leinwand getanzt. «Moving Backwards» heisst die Performance, die Sinnbild sein soll für die politisch-soziale Rückwärtsbewegung. Unter die Haut geht das leider nicht. Dafür umso mehr der andere Beitrag eines Schweizers – der in aller Munde und in allen Medien ist: Christoph Büchel liess das Wrack eines Flüchtlingsschiffes, bei dessen Untergang im Mittelmeer etwa 800 Menschen ertranken, im Hafenbecken des Arsenale aufbocken. Der Anblick, resp. was man dazu weiss, ist fast nicht zu ertragen. Der Gedanke, dass in diesem kleinen Schiff so viele Menschen tagelang zusammengepfercht waren, bevor sie ums Leben kamen, übersteigt unsere Vorstellungskraft von Leiden – und wir tragen Mitverantwortung. Büchel gehört zu den 79 von Rugoff eingeladenen Künstle_innen. Wie auch Ed Atkins, aus dessen Fotos uns arme, ländliche Menschen eindringlich ansehen und Alexandra Bircken mit einer gewaltigen Installation aus langen Leitern, auf denen 40 Latex-Figuren stehen, hängen und gefallen sind. Eine Dystopie des immer höher Hinauswollens. Beeindruckend auch die riesige, in Lumpen gekleidete Frau der Chinesin Yin Xiuzhen, die zusammengeklappt auf einem Sessel sitzt. Witzig die Marktstände aus Zement und rezyklierten Mosaikresten der Ukrainerin Zhanna Kadyrova. Und der 3D Video des Kanadiers Jon Rufmann "Dream Journal" ist eine hinreissende Fantasystory über die Abenteuer von Xanax Girl.
Eine Augenweide (schon der Glaspavillon mit den drei Bäumen mitten drin) bieten die Skandinavier. Grosse Stoffobjekte in unterschiedlichsten, raumgreifenden Formen und Farben. Einfach schön. Und davon gibt es noch viel mehr, wunderbar anzuschauende Installationen und Objekte, uns schien diesmal die Ästhetik vorrangiger zu sein als in anderen Jahrgängen der Biennale.
Noch zwei meiner persönlichen Highlights, ich kann nichts dafür: Russland und die USA. Erstere in ihrem grossen Pavillon mit einer Hommage an die flämische Malerei, speziell an Rembrandt. Nicht zu beschreiben – anzuschauen!
Die USA zeigen in ihrem Pavillon Objekte von Martin Puryear. Diese berühren mit grosser Kraft – formal nicht aufsehenerregend, haben sie eine unglaubliche Präsenz. Und eine (schwarze?) Malerin hat der Autorin Jesmyn Ward ein Bild gewidmet "Sing, unburied, sing" (siehe meine Buchbesprechungen).
Mein Tiefschlag: Die Belgier mit ihren naiven, menschlich grossen (hässlichen) Figuren aus dem Fundus des kollektiven Gedächtnisses, «Mondo cane». Sie erhielten dafür eine «spezielle Erwähnung» -? Und, leider wie fast immer, die Italiener mit manierierten (gar grosskotzigen) Objekten im grössten Pavillon mit goldenem Eingangsportal.
Verteilt in der Stadt sind etwa 30 weitere Länder präsent sowie die Eventi Collaterali von einzelnen Künstler_innen. Schwierig manchmal, die Orte zu finden (ausser die tollen Palazzi am Canal Grande), aber manchmal trifft man per Zufall, irgendwo in einer Gasse auf eine Ausstellung, oft wunderbare Überraschungen. Iran zeigt unter dem Titel «Fatherland» sehr politische Kunst, den Krieg anklagend. Den Goldenen Löwen für den besten Pavillon ging an Litauen. Sie haben in einer alten Lagerhalle einen Sandstrand angekarrt, am Samstagmorgen wird dieser physisch belebt mit singenden Menschen jeden Alters in Badekleidern – sun & sea, ironisch.
Und für alle, die nur mitleidig lächeln beim Gedanken an eine Venedig Reise: Für die Biennale kann man die gewaltigen Touristenströme gut umgehen und ein Apéro auf der Giudecca mit der Stadt im goldenen Abendlicht ist neben dem grossartigen Kunstevent immer wieder ein Glück!